Biberach hat ein eigenes Seminar für Waldorflehrer

Veröffentlicht am 12. Feb 2023 um 15:29 Uhr

Am Waldorflehrerseminar der Freien Waldorfschule Biberach werden die Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer von morgen ausgebildet. Ein Einblick in die im Landkreis Biberach neu angebotene berufsbegleitende Lehrerausbildung.

An einem herbstlichen Samstagsvormittag treffen sich die acht Teilnehmerinnen mit ihrer Seminarbegleiterin und ihrem Dozenten bei lernfreundlicher Atmosphäre und Kerzenschein in einem Klassenraum der Freien Waldorfschule Biberach. An diesem Tag widmen sie sich der Temperamentenlehre, die bereits Hippokrates beschrieb und die sowohl in der Psychologie als auch in der Waldorfpädagogik einen festen Platz innehält. 

Traumberuf: Erziehungskünstlerin

Seit dem 16. September 2022 trifft sich die Gruppe angehender Waldorflehrerinnen wöchentlich jeweils freitagabends sowie an zwölf Samstagen pro Jahr – ihr gemeinsames Ziel: nach drei Ausbildungsjahren, rund 1.000 Unterrichtseinheiten sowie einem weiteren Praxisjahr die Befähigung zu erlangen, an einer Waldorfschule als Klassenlehrerin Kinder zu unterrichten.

Mit dem Gedanken, waldorfpädagogisch tätig zu werden und sich berufsbegleitend zur Waldorflehrerin fortzubilden, spielten die meisten Teilnehmerinnen bereits seit geraumer Zeit. Als im Frühjahr 2022 dann bekannt wurde, dass in Biberach ein Waldorflehrerseminar starten würde, fiel nach dem obligatorischen Beratungsgespräch mit der Geschäftsführerin der Freien Waldorfschule Biberach, Melanie Gölz, bei allen Teilnehmerinnen schnell die Entscheidung für diesen Weg.

Berufsbegleitende Lehrerausbildung

Das berufsbegleitende Waldorflehrerseminar bietet den Teilnehmerinnen die Möglichkeit, sich nicht nur fachlich sowie unterrichtspraktisch auf Grundlage der Waldorfpädagogik ausbilden zu lassen und sich somit selbst weiterzuentwickeln, sondern auch zu erlernen, wie durch grundlagenorientierte und fachdidaktische Inhalte sowie durch künstlerische, praktische und unterrichtsnahe Bildung Kunst und Wissenschaft im Sinne einer ganzheitlichen Pädagogik verbunden werden können. 

So erfahren die Seminarteilnehmerinnen während ihrer berufsbegleitenden Ausbildung beispielsweise, dass künstlerisches Üben die Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit sowie die Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung intensiv schult. 

Als Waldorflehrerinnen werden sie zukünftig Bedingungen schaffen können, in denen ihre Schülerinnen und Schüler entdeckend und mit Hilfe verschiedener Wahrnehmungen lernen können. Sie lernen, dass wissenschaftlich gesichertes Wissen und Lernkompetenz einhergehen mit einer produktiven pädagogischen Atmosphäre sowie der Förderung von Gemeinschaftssinn, Kunst, Handwerk und Naturverbundenheit, damit Schülerinnen und Schüler sich wohlfühlen und angstfrei lernen können. So hebt auch eine Teilnehmerin, die selbst eine Waldorfschule besucht hat, hervor, wie gerne sie selbst als Kind zur Schule gegangen ist und dass es ihr Ziel ist, für ihre zukünftigen Schülerinnen und Schüler eine ebenso wunderschöne Schulzeit mitzugestalten.

Die an den derzeit rund 250 Freien Waldorfschulen in Deutschland verfolgte Pädagogik, bei der auf Grundlage des von Rudolf Steiner entwickelten anthroposophischen Menschenverständnisses jedes einzelne Kind als eine Individualität begriffen wird, wird treffenderweise auch als „Erziehungskunst“ bezeichnet, so dass Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer als „Erziehungskünstler“ verstanden werden können.

Waldorflehrerseminar Biberach

Dozent Matthias Kräutle vor einem Tafelbild in der Waldorfschule Biberach.

Individuelle und erziehungskünstlerische Unterrichtsgestaltung

An die kunstvollen und ausdrucksstarken Tafelbilder sowie die Fähigkeit ihres Klassenlehrers, wunderbare Geschichten mitreißend und bildhaft zu erzählen, erinnert sich jene Teilnehmerin und selbst ehemalige Waldorfschülerin noch heute sehr gerne. Die hierfür notwendige Kreativität, mit der die angehenden Waldorflehrerinnen ihren Unterricht gestalten werden und die so eng mit dem Sein und Tun der Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer verbunden ist, versuchen die Dozenten des Waldorflehrerseminars Biberach bei allen Teilnehmenden individuell hervorzukitzeln, sei es in der Aquarellmalerei, im Musizieren oder im Geschichten erzählen. Denn neben Sprache, Bewegung oder auch Musik nimmt die Kunst einen hohen Stellenwert in der Waldorfpädagogik ein, weshalb die Seminarteilnehmerinnen regelmäßig ihre künstlerischen Qualitäten erüben und schulen. Matthias Kräutle, Dozent an diesem Tage, sieht die größte Herausforderung darin, den Seminarteilnehmerinnen zwar zu zeigen, wie er seinen Unterricht gestaltet, ohne jedoch anzustreben, dass sie seine Vorgehensweise übernehmen. „Ich hoffe, dass ich mit meinen Ausführungen bei den Seminaristinnen Freude und Lust auf ihren zukünftigen Beruf wecken kann, sie mögen meinen Beitrag aber nur als eine Möglichkeit unter vielen betrachten, schließlich ist doch das Ziel ein selbst gestalteter, individueller Unterricht.“

Neben dem Umgang mit den verschiedensten Aspekten der Kunst und künstlerischen Gestaltung des Unterrichts erlernen die zukünftigen Erziehungskünstlerinnen auch vielfältiges Grundlagenwissen in den Bereichen Erziehungswissenschaften sowie Psychologie und erarbeiten zusammen Inhalte zu philosophischen, soziologischen sowie bildungswissenschaftlichen Grundfragen. Methodik und Didaktik für die künftige Unterrichtsgestaltung der Teilnehmerinnen werden auf Grundlage der Waldorfpädagogik gemeinsam praktisch und theoretisch erarbeitet.

Ein weiteres wesentliches Ziel der Lehrerausbildung ist es, den Seminarteilnehmerinnen das notwendige praxisbezogene Wissen mit an die Hand zu geben, um ihre zukünftigen Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Entwicklung optimal sowie individuell unterrichten zu können. Neben der theoretischen Ausbildung absolvieren die Teilnehmenden daher während des Waldorflehrerseminars in Biberach mehrwöchige Praktika an einer waldorfpädagogischen Einrichtung.

Biberach als attraktiver Waldorfseminarstandort

Bislang mussten sich Interessenten für die Waldorflehrerausbildung aus der Region Biberach an die Waldorflehrerseminare in Ravensburg, Stuttgart oder Überlingen wenden. Durch den neuen Standort an der Freien Waldorfschule Biberach wird die Ausbildung nun für eine größere Anzahl interessierter angehender Lehrerinnen und Lehrer leichter erreichbar. Die Nähe zum Wohnort stellt einen großen Vorteil dar, nichtsdestotrotz ist die notwendige Planung und Integration der Lehrerfortbildung eine Herausforderung für die heterogene Seminargruppe, deren Teilnehmerinnen alle nebenbei auch Mütter und berufstätig sind, beispielsweise als Unternehmerin, Dirigentin, Pädagogin oder als heilpraktische Psychotherapeutin.  

Für ihre Ausbildung zur Waldorflehrerin bzw. zum Waldorflehrer tragen die Seminarteilnehmenden monatliche Gebühren in Höhe von 100,00 Euro, die sie gut investiert sehen und mit denen ein Anteil der Kosten für die Referenten und Dozenten, die Seminarbegleiter, die Nutzung der Räume und die Verwaltung gedeckt werden.

Interessenten für das Waldorflehrerseminar, die mit Freude und Motivation die Erziehung von Kindern und jungen Menschen aktiv gestalten und neben ihrem Wissen auch ihre Persönlichkeit einbringen möchten, wenden sich für alle Fragen rund um die Ausbildung jederzeit gerne an die Geschäftsführerin der Schule, Melanie Gölz: melanie.goelz(at)waldorfschule-biberach.de. Die Anmeldung zum Waldorflehrerseminar kann an der Freien Waldorfschule Biberach unterjährig erfolgen, da der Lehrplan zirkulär aufgebaut ist. 

Die Freie Waldorfschule Biberach wurde 2005 gegründet und erfreut sich stetig wachsender Beliebtheit nicht nur bei Biberacher Familien. Aktuell besuchen rund 260 Schülerinnen und Schüler in den Jahrgangsstufen 1 bis 13 die Schule, deren Kollegium 25 Lehrkräfte umfasst. 

Waldorflehrer werden

Acht zukünftige Erziehungskünstlerinnen mit ihrem Dozenten und Lehrer der Freien Waldorfschule Biberach, Matthias Kräutle (oben rechts), sowie der Geschäftsführerin Melanie Gölz (oben links außen).

Weitere Informationen zum Waldorflehrerseminar finden sich hier.

Text: Catrin Igl

Bilder: Christoph Behm